Der Ort.
Das Material.
Die Nichtintegrierbaren Reste

Isabella Gerstner

 

Während eines fünf-monatigen Aufenthaltes in der Türkei habe ich in einer
Schleifmittel-Fabrik gearbeitet und Schleifkörper als Material, das einen Veränderungsprozess in Gang setzt, am Ort seiner industriellen Produktion erforscht. In dieser Zeit habe ich mich außerhalb meines gewohnten Lebens- und Arbeitsumfeldes bewegt, in einem anderen Land und in einer anderen Kultur, deren gesellschaftspolitische Wirklichkeit mich stark berührt. Ich war da, habe mich aufgerieben, habe mich abgeschliffen und meinen Aufenthalt an diesem Ort, als mein placement definiert.
Placement ist ein Begriff mit dem die Artist Placement Group (APG) in den 1960er Jahren begann, neue Arbeitskontexte für Künstler*innen zu definieren, um aus dem Erfahrungsprozess vor Ort eine mögliche Arbeit für den Ort zu entwickeln. Der Kontext ist dabei entscheidender Teil der künstlerischen Arbeit, die in einem Umfeld entsteht, das sich zu den bekannten Kunstproduktionsstätten widersprüchlich verhalten kann.

Art in Context (Kunst im Kontext), Universität der Künste Berlin (UdK Berlin), Rundgang 2018
Fabrik für Schleifkörperproduktion, Çerkezköy, Türkei, 2017

Mein placement habe ich theoretisch wie praktisch mit dem Konzept der APG reflektiert. Ich bin der Frage nachgegangen, was ein solches Arbeiten in Widersprüchen bedeutet und ob es dieses überhaupt gibt. Die Figur der incidental person, eine Person die zufällig, beiläufig anwesend ist und als welche die Künstlerin / der Künstler im Konzept der APG beschrieben wird, wurde dabei zu meiner Reibungsfläche.Sie scheint unter den heutigen Bedingungen des ökonomischen Kreativitätszwangs die allzeit flexible Kreativarbeiter*in zu sein. Das, was ich als Künstlerin in der Rolle der incidental person diesem kreativen Zwang entgegensetzen kann und das, was dieser Erfahrungsprozess produziert, ist der künstlerische Teil meiner Arbeit: Er besteht aus den nichtintegrierbaren Resten meines Erfahrungsprozesses, die zugleich dessen Essenz sind: Eine Sammlung von Schleifkörpern, Texten und Grafiken, sowie Bild-Ton-Collagen, gestaltet aus den Aufzeichnungen meines placements. Als Elemente habe ich diese Bruchstücke und Zeugen in einer Kiste von Istanbul nach Berlin transportiert. In dieser vermischen sich nun Ebenen, Schichten, Materialien und Zeiten. Die Kiste ist für mich eine große Spekulation, immer noch. Denn ich spekuliere mit ihr über das, was war, bis hin zu dem, was sein kann.

Art in Context (Kunst im Kontext), Universität der Künste Berlin (UdK Berlin), Rundgang 2018
Fotodokumentation aus der Fabrik: Schleifkörperproduktion, 2017
Art in Context (Kunst im Kontext), Universität der Künste Berlin (UdK Berlin), Rundgang 2018
Schleifkörper abgeschliffen, 30x30x5 cm, 2017
Art in Context (Kunst im Kontext), Universität der Künste Berlin (UdK Berlin), Rundgang 2018
Kiste (Holz, 40x40x20 cm) mit Dokumentationsmaterial, 2017

Isabella Gerstner
erforscht in ihrer künstlerischen Praxis die materiellen und immateriellen Zustände von spezifischen Orten und formuliert für diese mit Objekten, ortsspezifischen Installationen und Aktionsräumen potenzielle Umdeutungsmöglichkeiten. Nach dem Studium der Pädagogik und Kulturwissenschaften, studierte sie an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Karlsruhe und Stuttgart Bildhauerei und Intermediales Gestalten. Sie erhielt Förderungen für Arbeitsaufenthalte in Rotterdam, Paris, Istanbul und ein Arbeitsstipendium der Kunststiftung Baden-Württemberg.

Betreut von Claudia Hummel